Freigang für Sexualstraftäter? Antworten zur Flucht aus der Psychatrie

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5. Februar 2018

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Mit der Festnahme des Flüchtigen erlischt auch die Fahndung mit Lichtbild.

Die Flucht des verurteilten Sexualstraftäters Reinhard Peter J. aus dem Bezirksklinikum Ansbach am 6. Januar sorgte in ganz Mittel- und Unterfranken für Angst und Schrecken. Unzählige Hinweise gingen aus ganz Deutschland bei der Polizei ein. Einer davon – von einer Passantin – brachte dann auch den Erfolg. Vergangenen Montag nahmen Beamte des Polizeipräsidiums Frankfurt (Main) den Gesuchten im Stadtteil Sachsenhausen fest.

Vor allem in den sozialen Medien war die Aufregung extrem groß. „Warum wird erst so spät mit Bild gesucht?“ oder „Solche dürfen überhaupt keinen Ausgang haben!“ waren neben einigen Todesdrohungen und Kritik am deutschen Rechtssystem mehrfach überall zu lesen.

Auch fehlerhafte oder unvollständige Medienberichte hatten ihren Teil zu dieser großen Unsicherheit bei der Bevölkerung beigetragen.

Genehmigter Ausgang

Von einem „Freigang“ war oftmals zu lesen und von „der Geflohene stand kurz vor der Entlassung“. Beides so nicht ganz korrekt. Laut Bezirksklinikum Ansbach stand noch überhaupt kein Entlassungszeitpunkt fest. Auch das Wort „Freigang“ muss man erklären. Reinhard Peter J. hatte einen genehmigten Ausgang auf dem Gelände der Klinik. Wir haben für Euch dazu ein paar Hintergründe zusammengetragen.

Warum wurde so spät öffentlich gefahndet? Weshalb gibt es für Sexualstraftäter „Freigang“? Wann kann eine Fußfessel angeordnet werden? Wir haben mit Staatsanwaltschaft, Bezirksklinikum und der Polizei gesprochen, um Antworten auf diese Fragen zu bekommen.

Wer kommt überhaupt in die „forensische Psychiatrie“?

Das deutsche Recht unterscheidet zwischen schuldfähigen, vermindert schuldfähigen und schuldunfähigen Straftäterinnen und Straftätern. Schuldfähige können zu Freiheitsstrafen verurteilt werden, die sie im Justizvollzug, also im Gefängnis, verbüßen.

Anders ist der sogenannte Maßregelvollzug. Hier werden psychisch kranke und suchtkranke Straftäterinnen und Straftäter, die schuldunfähig oder vermindert schuldfähig sind, in psychiatrischen Kliniken untergebracht. Im Fall von Reinhard Peter J.  wurde dies auch nach §63 des Strafgesetzbuches (StGB) angeordnet – forensische Psychiatrie auf unbestimmte Zeit.

Wegen schwerer Sexualdelikte verurteilt

Der heute 47-Jährige war 1992 vor dem Jugendschöffengericht wegen schwerer Sexualdelikte zu einer siebenjährigen Gefängnisstrafe verurteilt worden. Zusätzlich ordnete das Gericht damals die Unterbringung auf unbestimmte Zeit nach §63 des Strafgesetzbuches (StGB) in einem psychiatrischen Krankenhaus an. Angeordnet wird dies, wenn z.B. ein „Täter seine Opfer seelisch oder körperlich erheblich geschädigt oder gefährdet hat und dieser für die Allgemeinheit gefährlich ist.“

Reinhard Peter J. wurde deshalb in die forensische Psychiatrie des Bezirksklinikums Ansbach eingewiesen.

In der „geschlossenen Abteilung“ der Einrichtung soll auf der einen Seite die Gesellschaft vor weiteren Straftaten des Verurteilten geschützt und zugleich die psychischen Erkrankungen behandeln werden, um nach Abwägen der Risiken, ihn irgendwann erneut am Leben der Gesellschaft teil haben zu lassen. Rund 1.200 Personen sind aktuell so in Bayern untergebracht.

Ärzte, Psychologen, Sozialpädagogen, Therapeuten und Pfleger arbeiten dabei Hand in Hand und versuchen im Idealfall eine weitest mögliche Resozialisierung und damit verbunden eine Wiedereingliederung in die Gesellschaft. Dieser Behandlungsprozess besteht aus mehreren Bausteinen. Darunter auch Lockerungen. Diese sind bayernweit in einheitliche Stufen eingeteilt. Wann und wie eine Lockerungsstufe veranlasst wird, ist abhängig von der Vorgeschichte und dem Therapieverlauf.

Voraussetzungen für Lockerungen

Vor einer Lockerung beraten sich das gesamte Behandlungsteam sowie der Leiter der Einrichtung. Zusätzlich werden in regelmäßigen Abständen externe Gutachter beauftragt, die Legalprognose (prognostische Einschätzung der Gefährlichkeit) und Lockerungsmöglichkeiten einzuschätzen. Mindestens jährlich wird die Entscheidung der zuständigen Strafvollstreckungskammer eingeholt, ob die Unterbringung fortgesetzt oder der Patient entlassen wird.

Das Bayerische Maßregelvollzugsgesetz (BayMRVG) regelt diese Lockerungsstufen einheitlich.

Die Lockerungsstufen

In Stufe 0 sind keine Lockerungen vorgesehen. Stufe A umfasst Ausgänge mit Personalbegleitung, beispielsweise zu einer Therapie außerhalb des geschlossenen Bereichs. Ab der Stufe B dürfen sich die Patienten nach einer vorherigen Anhörung der Staatsanwaltschaft ohne Begleitung frei bewegen. Dies gilt zunächst nur für das Klinikgelände.

Ab der Stufe C dann auch für Aufenthalte in der Stadt oder um sich auf Arbeitssuche zu begeben, bevor in der letzten Stufe erstmalig außerhalb der Maßregelvollzuganstalt übernachtet werden kann.

Es werden also folgende Formen unterschieden:
  • Begleiteter Ausgang (eine Patientin oder ein Patient und eine Aufsicht)
  • Gruppenausgang mit einer Aufsichtsperson
  • Gruppenausgang ohne Aufsichtsperson (Die Kontrolle innerhalb der Gruppe entwickelt dabei eine Eigendynamik, die Patientinnen bzw. Patienten kontrollieren sich gegenseitig.)
  • Unbegleiteter Ausgang (Diese Schwellenlockerung wird nur gewährt, wenn Ärztinnen, Ärzte, ärztliche oder psychologische Therapeutinnen und Therapeuten, Pflegerinnen und Pfleger sowie in bestimmten Fällen externe Gutachterinnen bzw. Gutachter die Patientin oder den Patienten als entsprechend gefahrlos einschätzen.)
Die Klinik für Forensische Psychiatrie der Bezirkskliniken Mittelfranken in Ansbach. Foto: Armin Höfig

Die Klinik für Forensische Psychiatrie der Bezirkskliniken Mittelfranken in Ansbach. Foto: Armin Höfig

Täglich genehmigter Geländeausgang

Der Alleinausgang unterliegt strengsten Anforderungen, wie etwa genaue Zeit- und Zielvereinbarungen. Der Ausgang ist stets mit einer Aufgabe verbunden, wie beispielsweise einer Arbeitstätigkeit. Jeder Ausgang ist zeitlich genau festgelegt. Wenn die Rückkehr sich auch nur um Minuten verzögert, werden die Sicherheitsbehörden informiert und die abgesprochenen Maßnahmen werden eingeleitet.
Reinhard Peter J. war zum Zeitpunkt seines Verschwindens in Stufe C. Er hatte bereits seit mehreren Monaten täglichen genehmigten Geländeausgang, der nur möglich ist, wenn die Therapie bereits weit fortgeschritten ist und keine akute Gefährlichkeit vorliegt. Wie Frau Dr. Peine vom Bezirksklinikum Ansbach erklärt, kam es hier nie zu Auffälligkeiten. J. sei auch immer zuverlässig und pünktlich zurückgekehrt. Bis zum 6. Januar 2018.

Das Verschwinden des 1,60 Meter großen und 100 Kilogramm schweren Mann wurde nach Angaben der Klinik noch am selben Tag der Polizei gemeldet, welche auch umgehend die Fahndung eingeleitet hatte.

Was bedeutet „chemisch kastriert“?

Eine akute Gefahr sei zum Zeitpunkt der Flucht auch nach Einschätzung der Klinik noch nicht von J. ausgegangen. Was hauptsächlich an der Tatsache lag, dass J. „chemisch kastriert“ ist. Medikamente blockieren hier das männliche Sexualhormon Testosteron und unterbinden damit jeglichen Sexualtrieb. Bis zu 12 Wochen hält die Wirkung an. Ohne diese Arznei steigt im schlimmsten Fall der Testosteronspiegel wieder auf Normalniveau – und damit auch die Gefährlichkeit.

„Die Einnahme der Medikamente bei einer „chemischen Kastration“ wird generell auch nach einer Entlassung überwacht. Alle Patienten müssen sich über die Nachsorgeambulanz regelmäßig vorstellen oder werden zur Kontrolle zu Hause besucht.“, versichert Dr. Peine vom Bezirksklinikum.

Warum wurde erst so spät öffentlich gefahndet?

Die anfängliche Ungefährlichkeit war auch einer der Gründe, warum erst rund zwei Wochen nach dem Verschwinden des Sexualstraftäters öffentlich gefahndet wurde. Mit steigender Gefahr für die Öffentlichkeit und dem Erfüllen weiterer gesetzlicher Bestimmungen, waren die Vorraussetzungen für eine Fahndung mit Lichtbild auch erst gegeben. Laut Gesetz muss die Gefahr „erheblicher Straftaten“ bestehen, damit die Ermittler mit Fotos der Gesuchten an die Öffentlichkeit gehen dürfen.

Wie Anita Traud von der Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth erklärt, müssen für eine Öffentlichkeitsfahndung auch „erst alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft sein, die zu einer Ergreifung führen könnten.“

Am 19. Januar wurde dann auf Antrag der Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth beim Amtsgericht Nürnberg die Öffentlichkeitsfahndung beschlossen. Bis dahin waren die Ermittler aber nicht untätig. Die Kripo Ansbach und Zielfahnder des Bayerischen Landeskriminalamtes hatten bereits seit Verschwinden intensiv nach Reinhard Peter J. gefahndet.

Mit der Festnahme des Flüchtigen erlischt auch die Fahndung mit Lichtbild.

Mit der Festnahme des Flüchtigen erlischt auch die Fahndung mit Lichtbild.

Das passiert bei einer Flucht:

„Fluchten“ ergeben sich fast ausschließlich aus unbegleiteten Vollzugslockerungen. Diese Vorfälle werden nicht verschwiegen. Der Landtag wird regelmäßig über solche Fluchten unterrichtet. An den Klinikstandorten werden die Anwohnerinnen und Anwohner in den örtlichen Beiräten informiert. Sobald sich eine Patientin oder ein Patient länger als erlaubt außerhalb der Klinik aufhält, wird die Polizei informiert und eine Fahndung eingeleitet.

Nur in Ausnahmefällen besteht dabei der Anlass einer Öffentlichkeitsfahndung durch die Polizei, weil in der Regel keine akute Gefahr von der Patientin oder dem Patienten ausgeht. Abgesehen von diesen polizeilichen Maßnahmen haben Kliniken und Kommunen an den bestehenden Standorten konkrete Absprachen darüber getroffen, wann und wer über einen Ausbruch bzw. eine Flucht informiert wird.

Nach Hinweisen gefasst

Nach zehn Tagen und unzähligen Hinweisen aus ganz Deutschland, kam dann der entscheidende Hinweis einer Passantin aus Frankfurt am Main. Ein Mann, auf den die Beschreibung des Flüchtigen ihrer Meinung nach zutraf, ließ sich im Stadtteil Sachsenhausen den Weg zu einer sozialen Einrichtung erklären.

Kurz darauf konnten Zivilfahnder der Frankfurter Polizei den 47-Jährigen in der Darmstädter Landstraße festnehmen. Der Gesuchte wurde daraufhin von Beamten des Bayerischen Landeskriminalamtes abgeholt und zurück in das Bezirksklinikum Ansbach verbracht.

Die Klinik für Forensische Psychiatrie der Bezirkskliniken Mittelfranken in Ansbach. Foto: Armin Höfig

Die Klinik für Forensische Psychiatrie der Bezirkskliniken Mittelfranken in Ansbach. Foto: Armin Höfig

Was passiert jetzt mit Reinhard Peter J. ?

Die Flucht bleibt für Reinhard Peter J. nicht ohne Folgen. Wie uns Dr. Ariane Peine vom Bezirksklinikum Ansbach mitteilte, werden alle Lockerungen für ihn widerrufen. Für den 47-jährigen bedeutet das, dass es vorerst keinen Ausgang mehr auf dem Gelände gibt und er in der hoch gesicherten Abteilung der Fachklinik verbleibt.

Fußfessel für Personen im Maßregelvollzug?

Viel diskutiert wird, ob Personen die Vollzugslockerungen haben und dementsprechend Ausgang, mit der sogenannten „elektronischen Fußfessel“ auch während der Haft überwacht werden sollten. Denn diese Maßnahme gibt es bislang nur für Straftäter die ihre Strafe verbüßt haben – aktuell 12 Personen in Bayern werden so überwacht – oder seit neuestem für sogenannte „Gefährder“. Aktuell bei einem Gewalttäter der Fall. Beides trifft aber für einen „Freigänger“ nicht zu.

Es würde auch vollkommen dagegen sprechen, einem Patienten, so bezeichnet man Häftlinge im Maßregelvollzug, nach genauester Prüfung auf seine Gefährlichkeit Freigang zu gewähren, um ihn dann als potentiell gefährlich einzustufen und per Fußfessel zu überwachen. Ganz davon abgesehen, sind Sexualstraftäter triebgesteuert. Die Fußfessel ändert daran nichts und wird auch keinen Triebtäter von Straftaten abhalten können.

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