Stadtteiltypen: Selina und Christoph aus Heidingsfeld
Philipp Heilgenthal
5. Dezember 2023

Der Blick in die Wenzelstraße vom Rathausplatz in Heidingsfeld aus. Foto: Johannes Kiefer
Alle Würzburger Stadtteile haben einen einzigartigen Charakter. Die Bewohnerinnen und Bewohner prägen maßgeblich ihr Stadtteil und umgekehrt. Da wäre beispielsweise Heidingsfeld mit seiner stolzen Geschichte als ehemalige Stadt oder das Frauenland in seinen vielen Einfamilienhäusern samt Vorgärten. Aus diesem Grund machen wir es uns zur Aufgabe, in unserer Serie „Stadtteiltypen“ typische Charaktere der Würzburger Viertel zu kreieren und zu beschreiben, was sie an ihrer Umgebung so mögen. Dieses Mal widmen wir uns dem unbeugsamen Heidingsfeld, einst eigenständige Stadt, heute großes, gut angebundenes Pendlerdomizil.
Stadtteiltypen: Flo und Gisela aus der Sanderau
Stadtteiltypen: Tina und Werner aus der Zellerau
Stadtteiltypen: Stefan und Stefanie aus Grombühl
Von der Kalten Quelle bis zur Herieden ist Christophs ganzer Kosmos
Christoph liebt seinen Heimatort. Hier in den Gassen des Städtles ist er groß geworden und hier spielen auch heute seine beiden Kinder – also manchmal vielleicht, wenn schönes Wetter ist und sie doch mal von den TikTok-Videos gelangweilt sind. Als echter Hätzfelder kann er sich keinen schöneren Ort auf der Welt vorstellen. So hielt der Mechaniker die Zeit auf Montage im Ausland kein ganzes Jahr aus, zu fremd und unheimlich war ihm die große weite Welt. Sein ganzer Kosmos erstreckt sich von der Kalten Quelle, wo er im Sommer gerne hin radelt oder wandert und das ein oder andere Kaltgetränk zu sich nimmt, bis zur Herieden, wo er sich sonntags lautstark darüber beschwert, was die Spieler des SV Heidingsfeld alles können müssten – was er in seiner aktiven Fußballzeit aber selbst nie konnte. Ansonsten holt sich Christoph am liebsten seine Kipf beim Roth um die Ecke und seine Fleischwurst beim Christian nebendran, den er natürlich persönlich kennt. Da ist die Brotzeit für seine Mittagspause gesichert und mit ABS („a bissle Senft“) dazu die Welt in Ordnung. Seine Welt in Heidingsfeld.

Die Bäckerei Roth in Heidingsfeld. Foto: Benjamin Brückner
Selinas teuer erkauftes Vorstadtidyll mit Garten ist ihr ganzer Stolz
Auch Selina mag ihren Wohnort. Nur verbindet die gebürtige Stuttgarterin viel weniger Heimatliebe mit ihrem Viertel als pragmatische Zufriedenheit. Denn Heidingsfeld ist für sie natürlich keine eigene Stadt, sondern ein schöner, ruhiger, etwas abgelegener, aber super ans Zentrum angebundener Stadtteil. Hart mussten ihr Mann Mark und sie arbeiten und die Bank um einen großzügigen Kredit bemühen, um ihr Vorstadtidyll in der Lehmgrubensiedlung finanzieren und Stück für Stück einrichten zu können. Nun ist die gemütliche Doppelhaushälfte und vor allem ihr kleiner Garten ihr ganzer Stolz. Wenn sie ihren Arbeitskolleginnen davon erzählt, könnte man meinen, die Hobbygärtnerin kultiviere intensiv Gemüse auf zwei Hektar Gewächshäuser. Am Ende ist es eigentlich nicht viel mehr als ein Pfirsichbäumchen, eine Reihe Salatköpfe und drei Tomatensträucher. Dafür schmecken ihre Tomaten ganz anders als die vom nahegelegenen Edeka. Warum viele Leute den Supermarkt „Kupsch“ nennen, ist ihr ein Rätsel. So wie viele der alteingesessenen eigenbrötlerischen Stadtteilbewohner hier generell ein Rätsel sind.
Christoph mag keine Veränderung und fühlt sich keinesfalls als Würzburger
Das beschauliche Heidingsfeld hat sich in den letzten Jahren stark verändert, sehr zum Missfallen von Christoph, denn er mag keine Veränderungen. Stück für Stück ist die (einstige) Kleinstadt größer geworden. „Auswärtige“ haben den Katzenberg und den Bloßenberg mit ihren Häusern zugepflastert und damit die schönen Weinberge und Streuobstwiesen immer weiter zurückgedrängt. Die blöde Straßenbahn hat sie angelockt, die Heidingsfeld mit Würzburg verbindet, wo die beiden Orte doch eigentlich kaum etwas verbindet. Denn wie ein echter Hätzfelder, ignoriert auch Christoph die Tatsache, dass der Ort, der 1367 das Stadtrecht verliehen bekam, bereits 1930 von Würzburg eingemeindet wurde.
Doch Heidingsfeld hat seine eigenen Geschäfte und Lokale wie die Giemaulschänke, in der Christoph jeden Mittwoch mit seinen „Jungs“ Schafkopf spielt, seine eigenen Traditionen wie das Stärketrinken an Dreikönig am Salmannsturm und seine eigenen Vereine wie die Fasenachtsgilde Giemaul, die auch den eigenen großen Faschingszug organisiert. Der Faschingsfan ist seit Klein auf Mitglied der Faschingsgilde und steckt all sein Herzblut in die vielen Veranstaltungen. Bereitwillig erzählt er jedem Fremden ausführlich die Geschichte des Namensgebers, des Giemauls, dessen Konterfei auch das Heidingsfelder Rathaus ziert. Da braucht er weder die Bars in der Sanderstraße noch das Würzburger Weindorf noch die Würzburger Karnevalsgesellschaft. Christoph braucht das eigentliche Würzburg eigentlich gar nicht.

Die Giemaulschänke in Heidingsfeld. Foto: Johannes Kiefer
Ohne die Straßenbahn wäre Selinas Stadtteil verschlafen
Was Selina besonders an ihrem Wohnort schätzt, ist die Ruhe. Da in ihrer Straße kaum ein Auto fährt und in der Nachbarschaft sonst auch nur anständige Familien wohnen, kann sie Tristan, ihren kleinen Schatz, auch ohne schlechtes Gewissen auf der Straße spielen lassen. Selbstverständlich lässt sie den Elfjährigen dabei trotzdem keine Sekunde aus den Augen. Man weiß ja nie, welche verrückten Gestalten draußen herumlaufen oder auf welche schlimmen Gedanken die Kinder kommen könnten, wenn sie sich einmal von Erwachsenen unbeobachtet fühlen würden. Dennoch verleiht ihr die Lehmgrubensiedlung ein Gefühl von Frieden und Sicherheit. Ganz anders als ihr krimineller Heimatort Stuttgart mit seinen vielen asozialen, aggressiven Bewohnerinnen und Bewohnern. Nein, in Würzburg fühlt sie sich viel besser aufgehoben. Und obwohl Würzburg in ihren Maßstäben recht klein ist, ist es eine sehr lebendige Stadt. Gerade diese Balance zwischen ruhiger, harmonischer Wohnlage und belebtes Stadtleben schätzt Selina ungemein. Deshalb ist sie in der Regel entweder in ihrem Eigenheim mit ihrem geliebten Garten oder in der Innenstadt vorzufinden, wo sie auch als Businessmanagerin arbeitet.
Die Straßenbahn machts möglich. So kommen Mark und sie mit nur einem SUV gut aus, mit dem sie ihren kleinen Schatz jeden Tag in die Schule fahren. Sogar nachts fahren die Linien 3 und 5 noch, weshalb sie gerne mal mit ihren Arbeitskolleginnen auf ein Weinchen ins Heinrichs oder ins Unicafé geht. Ohne den Straßenbahnanschluss und den neuen Bahnhof wäre ihr Stadtteil ganz schön verschlafen, findet Selina. Denn wer will schon in diese verruchten Spelunken wie die Pilsklause oder die Giemaulschänke – warum auch immer die so heißen – mit ihren zwielichtigen Gestalten einkehren? Einzig ein Lokal in ihrer Nähe schätzen ihr Mann und sie: das Porta Nova. Dort feiern sie immer ihren Jahrestag und fühlen sich wie im Urlaub an der Adria, wenn sie der nette Kellner mit „Buona sera, Signora“ begrüßt und die beiden mit „Tschianti“ zu ihren „Gnotschis“ und einer Pizza mit „Porskuddo“ anstoßen. Danach gibt’s zur Verdauung noch zwei Expressos und wenn sie Zuhause sind, hoffentlich ganz viel Amore. So lässt es sich leben in ihrem persönlichen Vorstadttraum – solange sie nur nichts mit diesen störrischen fränkischen Einheimischen zu tun haben müssen.
Selina und Christoph kennen sich gar nicht – woher auch?
Und so gehen Selina und Christoph im selben Stadtteil ihre ganz eigenen Wege und laufen im Leben aneinander vorbei. Die beiden kennen sich nicht einmal. Woher und weshalb auch? Sie, die die ehrwürdige Geschichte Heidingsfelds ignoriert und er, der dessen dynamische Gegenwart verblendet, haben beide das Gefühl, in einem völlig anderen Stadtteil als der andere zu leben.