Stadtteiltypen: Tom und Eylül aus der Lindleinsmühle 

Manuel Scholze

27. Dezember 2023

Mehrfamilienhäuser in der Lindleinsmühle. Foto: Daniel Peter
Wohnen in Würzburg

Mehrfamilienhäuser in der Lindleinsmühle. Foto: Daniel Peter

Verschiedene Stadtteile, mannigfaltige Charaktere: Die Würzburger Stadtteile sind teils völlig unterschiedlich, geprägt von ihrer Historie und ihren Bewohnerinnen und Bewohner. Wer würde beispielsweise auf die Idee kommen, dass das Steinbachtal und der Heuchelhof große Schnittmengen besitzen? Keiner! Ein genauerer Blick lohnt trotzdem, zeigt unsere Serie „Stadtteiltypen“, in der wir typische Charaktere der Würzburger Viertel kreieren und beschreiben. Dieses Mal geht es in die Lindleinsmühle, oft als Problembezirk verrufen, doch es geht auch ganz anders.

Der wunderschönste Ort zum Abhängen in der Lindleinsmühle, das ist wohl die ehrwürdige Tankstelle „Kemmer“. Von dort sind es nur wenige Meter zum fleischspendenden Dönerverkäufer, nur wenige Meter zum Bolzplatz und für viele Kids aus der Lindleinsmühle nur wenige Meter in einen der Häuserblocks, in dessen Eingeweide auch Eylül seit ihrer ersten Fahrt aus der benachbarten Uni-Klinik vor 15 Jahren wohnt. Lindleinsmühle, das ist für sie Heimat, hier kann sie sich wenigstens ein bisschen wie die glorifizierten Heldinnen und Helden aus der „4-Blocks“-Serie aus Berlin fühlen. Ein bisschen Hauptstadt, ein bisschen Ghetto, Hängen auf der Straße mit Menschen aus der ganzen Welt – so viel Freiheit bietet Würzburg, ihre Stadt, die Eylül sonst manchmal als zu spießig und wenig offen empfindet. Die Möglichkeit zu haben, im Jugendzentrum ZOOM BasKIDball zu zocken, ohne wirklich dafür trainieren zu müssen. Oder Breakdance zu performen, das liebt sie. Im Bermudadreieck des Kemmer-Tankparadieses, da trifft sie sich danach mit ihren Freunden, da kann sie ihr neuestes Parfum auflegen, da wird im Sommer das immer noch schmale Schüler-Gehalt/Taschengeld für Cornetto und Becks Lemon auf den Kopf gehauen.

Der Kirchplatz St. Albert. Foto: Thomas Obermeier

Wenn am Ententeich der Mühle der Wodka fließt

Becks Lemon ist auch Toms Lieblingsgetränk. Er wohnt in einer frisch renovierten Drei-Zimmer-Wohnung auf der Grenze zwischen der Lindleinsmühle zu Versbach. Im Sommer mag er den sauren, erfrischenden Geschmack der Bier-Limo, die er dann mit Ausblick auf die Versbacher Straße und die Wohnblöcke der Lindleinsmühle genießt. Hier, in der Talsenke stadtauswärts, da geht immer wieder ein angenehmer Wind und die Temperaturen stauen sich nicht so heftig wie in der Innenstadt. Auch hier, hinter dem Steinberg, kann Freiheit außerhalb der Domstraße empfunden werden. Nach dem sechsten Becks Lemon jagt der Hunger Tom in Richtung Kebabtempel in der Schwabenstraße. Schwaben trifft er hier keine, sondern immer wieder auf junge Leute, die gern mal ein bisschen über die Stränge schlagen. Schlimm findet Tom das nicht, er mag es, dass am Ententeich der Mühle auch mal Wodka getrunken wird und nicht alles so ruhig ist, wie er es von seinem gediegenen Arbeitsumfeld im Frauenland gewohnt ist. Hier am Ententeich, da trifft die Jugend auf Alk, auf die erste große Liebe, die vielleicht maximal zwei Monate dauert – und auf Enten. Da fühlt sich Tom auch wieder in seine Teenietage versetzt, so lange ist das doch noch nicht her, Tom ist schließlich erst 35 Jahre alt.

Tom und Eylül begegnen sich fast jeden Tag. Beide sind mit dem Bus regelmäßig unterwegs. Linie 450 oder 452, damit geht es meist in die Innenstadt. Für Eylül ins Gymnasium, für Tom zum Hauptbahnhof, Umwälzplatz für die weitere Busfahrt ins Frauenland. Nach Feierabend wieder der Bus: Treffen mit den Mädels zum Abhängen in die Juliuspromenade für Eylül, für Tom geht ins Nachtleben von Würzburg. Für ihn endet der Abend meist im Club, Tom ist dann gerne bis zum Sonnenaufgang in der Stadt. Beide suchen sie die Liebe in der City. Die zur Lindleinsmühle haben sie bereits gefunden – vielen Unkenrufen zum Trotz, die in der Lindleinsmühle neben dem Heuchelhof den Abstieg Würzburgs vermuten.

Die Wolfskeel Realschule in der Lindleinsmühle, Würzburg. Foto: Johannes Kiefer

Eylül will raus aus dem Elternhaus, aber in der Lindleinsmühle bleiben

Würden sich Tom und Eylül beim Warten auf den Bus unterhalten, würden sie ähnlich über ihren unterschätzten kleinen Stadtteil urteilen. Beide mögen die Anonymität, das Großstädtische, den Mix verschiedener Kulturen und Generationen. Die kleinen Supermärkte, die große Freiheit an der Tankstelle. Sie glauben an die Lindleinsmühle. Eylül will raus, aber nicht aus der Mühle. Lieber raus aus der elterlichen Wohnung, rein ins Studium, gerne in eine WG unweit der elterlichen Wohnung entfernt. Tom würde hier sogar in naher Zukunft eine Wohnung oder ein Haus kaufen, Schule und Kindergarten um die Ecke nutzen, wenn die Richtige anklopft. Hier kennt er kennt seine Buslinie, er kennt die Vorzüge und Erreichbarkeit des Stadtteils, er freut sich über kleine Entwicklungen wie die Fußgängerampel am Lidl, die nicht nur ältere Mitbürger nicht mehr im Überlebensmodus über die Versbacher Straße zwingt. Und seinen Frühstückseinkauf beim Maxl-Bäck im Lidl, der auch Sonntag geöffnet hat. Die Lindleinsmühle, sie bietet zwar weder Eylül noch Tom einen idyllischen Blick auf den Main, aber einen, tief in das Herz einer Stadt, die eben nicht nur aus der Festung, dem Fluss und dem Weltkulturerbe Residenz besteht.

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