Judenplan und andere jüdische Straßennamen in Würzburg-Heidingfeld
Philipp Heilgenthal
5. November 2024

Die kleine Gasse Judenplan befindet sich in der Altstadt von Heidingsfeld. Foto: Philipp Heilgenthal
In Heidingsfeld gibt es eine kleine Gasse mit einem ungewöhnlichen Namen. Auf erschreckende Art und Weise erinnert die Adresse im Städtle an die schlimme NS-Zeit. Doch Marian Benjamin Fritsch, Experte für jüdische Geschichte in Unterfranken, gibt Entwarnung: Die Herkunft des Straßennamens „Judenplan“ dürfte eine ganz andere sein. Zeit für einen kleinen Exkurs in die jüdische Geschichte des Würzburger Stadtteils Heidingsfeld und nach Straßennamen mit jüdischem Hintergrund zu recherchieren.
Stadtteiltypen: Die fiktiven, typischen Heidingsfelder Selina und Christoph
Bekanntlich war Heidingsfeld vor der Eingemeindung 1930 etwa 800 Jahre lang selbst eine stolze Stadt, wie die noch weitgehend erhaltene mittelalterliche Stadtmauer bezeugt. Innerhalb der Mauern befand sich über Jahrhunderte eine außergewöhnlich große jüdische Gemeinde, die eine kulturelle Blüte erlebte. Während die jüdische Bevölkerung in Würzburg schon im Mittelalter Opfer von systematischer Diskriminierung, Vertreibung und verheerender Pogrome wurde, genossen Jüdinnen und Juden im benachbarten Ort besondere rechtliche Sicherheit.
Seit 1431 Judenschutz in Heidingsfeld
Denn im Spätmittelalter war Heidingsfeld – Achtung, Überraschung – Teil der böhmischen Krone und König Sigismund verlieh 1431 der Kleinstadt das Recht, „juden und judinne aufzunehmen“, die fortan unter königlichem Schutz standen, solange sie ihre Steuern bezahlten. Dieses für diese Zeit außergewöhnliche Recht, namens „Judenschutz“, das ansonsten höchstens freien Reichsstädten zustand, zog mit der Zeit immer mehr Jüdinnen und Juden an, vor allem, als sie aus der nahen Stadt Würzburg vertrieben wurden.
Unter fürstbischöflicher Obhut im Judenhof
Selbst als die Stadt 1628 dem Fürstbistum Würzburg zugesprochen wurde, hielten die Fürstbischöfe fortan am Judenschutz fest, obwohl die jüdische Bevölkerung in Würzburg selbst seit dem 15. Jahrhundert systematisch vertrieben worden war. Das Domkapitel ging sogar noch einen Schritt weiter und nahm 1713 zahlreiche jüdische Familien, die für sie arbeiteten, in einem ehemaligen Adelshaus auf. Damit standen sie unter fürstlicher Obhut. Zuvor weigerten sich die christlichen Bürgerinnen und Bürger aus Heidingsfeld, den jüdischen Bürgerinnen und Bürgern weiterhin Wohnraum zur Verfügung zu stellen. Dieser Hof in der Klosterstraße am Ostrand der Heidingsfelder Altstadt wird daher bis heute „Judenhof“ genannt, ein Schild weist auf den Namen hin.

Gedenkstätte Dürrenberg in Heidingsfeld an der Stelle der ehemaligen Synagoge. Foto: Philipp Heilgenthal
Gedenkstätte Dürrenberg erinnert an das jüdische Leben in Heidingsfeld
Informationen wie diese sind an einer Gedenktafel am Dürrenberg in Heidingsfeld zu lesen. Davor stehen eine Gedenksäule und ein Koffer aus Stein. Letzterer ist Teil des Zwillingsmodell des DenkOrts Deportationen am Hauptbahnhof Würzburg und erinnert speziell an die Vertreibung und Verschleppung der gesamten jüdischen Gemeinde aus Heidingsfeld in den 1930er Jahren. Der Ort am Südrand der Altstadt wurde nicht zufällig gewählt. Denn bis zum Brandanschlag 1938, der im Zuge der schrecklichen landesweiten Novemberpogrome verübt wurde, stand gleich daneben eine der größten Synagogen in Süddeutschland.
Das steckt hinter dem künstlerischen Konzept des Denkorts Deputation
Namensherkunft von Judenplan harmloser als man denken könnte
Seltsamerweise weist der Name der Straße an der Synagoge nicht auf das jüdische Leben im Städtle hin. Dafür jedoch eine Gasse am westlichen Ende der Altstadt: Judenplan. Im ersten Moment möchte man meinen, der Straßenname könnte etwa mit der Wannsee-Konferenz des NS-Regimes in Zusammenhang stehen oder mit dem sogenannten Madagaskarplan, nach dem sämtliche europäische Jüdinnen und Juden im Zweiten Weltkrieg nach Madagaskar deportiert werden sollten. „Die Assoziation zu (finsteren) Plänen ist natürlich naheliegend, in diesem Falle jedoch glücklicherweise irreführend“, erklärt Marian Benjamin Fritsch vom Johanna-Stahl-Zentrum auf Anfrage. So nehme der Name Bezug auf das alte mittelhochdeutsche Wort „plān“, als Bezeichnung für eine Fläche, einen Platz beziehungsweise eine Ebene. „Ähnlich wie die Bezeichnungen „Judenplatz“ oder „Judengasse“ lässt der Name auf einen Ort mit jüdischem Kontext schließen, etwa weil dort jüdische Familien lebten“, sagt der Sprachwissenschaftler an der Einrichtung für jüdische Geschichte und Kultur in Unterfranken im heutigen jüdischen Gemeindezentrum „Shalom Europa“ in Würzburg. Einen Bezug zum jüdischen Friedhof in der Hofmannstraße und der ehemaligen Synagogehält er dagegen aufgrund der Entfernung für weniger naheliegend.
Tür an Tür mit christlichen Mitbürgern
Ganz sicher nachweisen lässt sich diese Namensgebung allerdings nicht, da die jüdische Bevölkerung Heidingsfelds, anders in vielen anderen deutschen Städten, nicht für sich in einer einzigen „Judengasse“ oder in einem eigenen Viertel lebten, beziehungsweise leben mussten. Vielmehr lebten sie in (mal mehr, mal weniger) harmonischer Nachbarschaft mit ihren christlichen Nachbarinnen und Nachbarn in der gesamten Stadt verteilt. Der Name „Judenplan“ komme daher höchstwahrscheinlich von einem kleinen (ehemaligen) Platz, an dem – ausnahmsweise – ausschließlich oder besonders viele Jüdinnen und Juden lebten. Und der Anteil der jüdischen Bevölkerung in Heidingsfeld war beträchtlich.

Blick auf die Heidingsfelder Synagoge in den 1920er Jahren, kurz vor ihrer Zestörung. Archiv: Willi Dürrnagel
Bis zu 18 Prozent der Bevölkerung in Heidingsfeld war jüdisch
Während es Ende des 15. Jahrhunderts bereits 17 jüdische Großfamilien in Heidingsfeld gab, waren es in einer ersten Hochphase 1720 bereits 250 Jüdinnen und Juden. Da sie in vielen umliegenden Großstädten Opfer von Anfeindungen und Vertreibung wurden, zogen in den kommenden Jahrzehnten immer mehr von ihnen nach Heidingsfeld. So verdoppelte sich die jüdische Bevölkerung bis zum frühen 19. Jahrhundert auf 500 bis 600 Personen und machte damit über Jahrzehnte einen Anteil von 16-18 Prozent der gesamten Stadtbevölkerung aus.
Über 200 Jahre lang kulturelles und religiöses Zentrum in Unterfranken
Kaum verwunderlich ist, dass zu dieser Zeit das kulturelle und religiöse jüdische Leben in Heidingsfeld eine Blütezeit erlebte. So befand sich 1695 bis 1813 das Oberrabbinat aller jüdischen Gemeinden des Würzburger Bezirks in dem beschaulichen Würzburger Vorort. Damit hatte Heidingsfeld zeitweise nicht nur die zweitgrößte Gemeinde Bayerns (nach Fürth) sondern war auch das kulturelle und religiöse jüdische Zentrum schlechthin in Unterfranken. Vom Selbstbewusstsein des Oberrabbinats zeugte das große jüdische Gemeindezentrum. Auf dem Fundament der früheren Synagoge, die schon bald zu klein war, errichtete die große Gemeinde 1780 eine neue, größere Synagoge mit teilweise barocken Elementen. Zusammen mit der jüdischen Privatschule und einigen anderen Gemeindegebäuden, befand sich der Gebäudekomplex an der Stelle des heutigen Wohnblocks mit den Adressen Dürrenberg 2 bis 8a und Am Döle 1 bis 5 am südlichen Fuße der Stadtmauer.
Judenbühlweg als frühneuzeitlicher Pendlerstrom
Bis 1803 war es Jüdinnen und Juden nicht nur verboten, in Würzburg zu wohnen, sondern auch zu übernachten. Da jüdische Händler in der damaligen Landeshauptstadt immerhin ihre Waren verkaufen durften, pendelten sie regelmäßig von Heidingsfeld nach Würzburg über den Judenbühlweg, benannt nach dem dortigen Flurstück Judenbühl, also „Judenberg“. Bis heute zeugt der Judenbühlweg parallel zur Mergentheimer Straße vom frühneuzeitlichen Pendlerstrom jüdischer Kaufleute, wie der Experte Marian Benjamin Fritsch bekräftigt.

Ein Querschnitt der Heidingsfelder Synagoge. Archiv: Willi Dürrnagel
Infolge der Landflucht durch die industrielle Revolution ab Mitte des 19. Jahrhunderts begann die jüdische Gemeinde schlagartig zu schrumpfen. Viele Jüdinnen und Juden zog es nach Würzburg, wohin bereits 1813 das Oberrabbinat verlegt worden war. Immerhin etwa 80 Jüdinnen und Juden lebten bis in die 1930er Jahre noch in Heidingsfeld. Sie fielen allesamt dem Holocaust zum Opfer oder konnten zuvor noch rechtzeitig ins Ausland fliehen.
Weg in Heidingsfeld erinnert an ausgezeichnete Krankenschwester und Kommunalpolitikerin
Unter ihnen waren zwei berühmte lokale Persönlichkeiten: Herta Mannheimer war nicht nur Kommunalpolitikerin für die SPD, sondern erhielt für die Dienste als Krankenschwester im Ersten Weltkrieg von König Ludwig III. von Bayern persönlich das König-Ludwig-Verdienstkreuz verliehen, das damals „besondere Verdienste um die bayerische Armee oder um die Wohlfahrt“ auszeichnete. Außerdem machte sich Mannheimer durch besonderes ehrenamtliches Engagement in der Turngemeinde Heidingsfeld verdient. Seit den 1960er Jahren erinnert der Herta-Mannheimer-Weg in der Siedlung am Katzenberg an die 1943 in einer Gaskammer in Ausschwitz ermordete Heidingsfelderin.
Platz und Stadtteilzentrum nach Revolutionsführern benannt
Nach einer weiteren jüdischen Heidingsfelder Persönlichkeit ist ein Platz in Würzburg benannt worden. Auf dem Felix-Freudenberger-Platz am Willy-Brandt-Kai befindet sich heute der beliebte Hennes Kiosk. Der SPD-Landtagsabgeordnete war 1918 einer der Anführer des Arbeiter- und Soldatenrates in Würzburg.
Freudenberger ist leicht zu verwechseln mit dem ebenfalls jüdischen USPD-Politiker und Revolutionär Felix Fechenbach, der zeitweise in Würzburg lebte. Dieser stand jedoch direkt in München an der Spitze der friedlichen Revolution vom 7. November. Als Vertrauter des ersten Bayerischen Ministerpräsidenten arbeitete der junge Fechenbach in der Folge als sein persönlicher Sekretär. Damit arbeiteten beide Würzburger maßgeblich an der friedlichen Transformation von der Monarchie zur Demokratie in Bayern mit. Nach Fechenbach ist das Stadtteilzentrum in Grombühl benannt worden (Felix-Fechenbach-Haus). Als linker, jüdischer Revolutionär stand er ganz oben auf der Feindesliste der Nationalsozialisten und wurde bereits 1933 im KZ Dachau ermordet.
Buchtipp: Wer sich für tiefergreifende jüdische Geschichte aus Sicht der Flurnamensforschung interessiert, dem empfiehlt Marian Benjamin Fritsch „Der Judenweg“ von Barbara Rösch. Das Buch ist im Johanna-Stahl-Zentrum in Würzburg kostenlos ausleihbar.