Der Stehtisch – Mythos eines neuen schlichten Szenetreffs in Würzburg

Philipp Heilgenthal

15. Mai 2025

Am belebten Kreisverkehr am Friedrich-Ebert-Ring ist aus einem einfachen Stehtisch ein besonderer Ort der Begegnung geworden. Foto: Philipp Heilgenthal
Stehtisch_Interview

Am belebten Kreisverkehr am Friedrich-Ebert-Ring ist aus einem einfachen Stehtisch ein besonderer Ort der Begegnung geworden. Foto: Philipp Heilgenthal

Ein neuer Treffpunkt in Würzburg, der schlichter gar nicht sein könnte, erfreut sich wachsender Beliebtheit: Ein kleiner, selbstgebauter Stehtisch am belebten Kreisverkehr zwischen Friedrich-Ebert-Ring und Valentin-Becker-Straße dient als Ort der Begegnung für Unbekannte, die im Handumdrehen zu Bekannten werden. Inzwischen wird der Stehtisch im Netz sogar schon als „neues Wahrzeichen Würzburgs“ gefeiert.

Mittwoch, 20 Uhr: Ortstermin am Stehtisch. Neben drei etablierten Stehtischgängern und einer Stehtischgängerin gesellen sich nach und nach ein paar Neulinge hinzu, der Autor dieses Textes mitinbegriffen. Man kommt sofort ins Gespräch und schneller als man in einer Bar ein Getränk serviert bekäme, finden mehrere Anwesende bereits heraus, dass sie über zwei, drei Ecken tatsächlich schon gemeinsame Berührungspunkte haben. Dazwischen werden ältere Passanten höflich begrüßt, welche freudig erwidern, wie toll sie das hier finden und ein Busfahrer winkt der Gruppe fröhlich zu. Ein ganz normaler, magischer Abend am Stehtisch zwischen Residenz und Südbahnhof.

Beispiel einer der poetisch formulierten Google-Rezensionen über den Stehtisch am Friedrich-Ebert-Ring in Würzburg. Screenshot: Philipp Heilgenthal

Aus einem „practical Joke“ entwickelt sich ein gefeierter Treffpunkt

Auf Google Maps ist der Stehtisch offiziell als Bar gekennzeichnet. Oberflächlich gesehen, könnte man von einer Eckkneipe ausgehen. Beim Blick auf die (bisher) bereits 45 Rezensionen– ausschließlich mit fünf Sternen bewertet – wird jedoch klar, dass der „Stehtisch“ genau für das steht, was der Name verspricht. In blumigen, oft schon poetischen Beschreibungen wird das selbstgezimmerte Tischchen als „neues Wahrzeichen Würzburgs“, als „wahres Kleinod unter den Stehtischen“ oder als „ein Ort der kurzen Rast und Begegnung“ stilisiert. „Es ist eine Art practical Joke geworden“, erklärt Johnny, einer der an diesem Abend anwesenden ausgesprochenen Fans dieses Ortes. Aus dem Witz heraus, wie geil es am Stehtisch sei, sei am Ende daraus tatsächlich ein gefeierter, einzigartiger Ort der Begegnung entstanden. Und die Rezensionen zeigen Wirkung: Immer mehr Würzburgerinnen und Würzburger fragen sich, was es damit auf sich hat.

Ansonsten hat der Stehtisch inzwischen vor allem auf der Social Media Plattform Reddit rege Bekanntheit erlangt. Hier startete auch ein Zeugenaufruf, wo denn der ursprüngliche erste Stehtisch abgeblieben sei. „Ein Anwohner meldete sich, einen jungen Mann beobachtet zu haben, wie er den Tisch wegtrug. Aber mehr ist dabei leider nicht herausgekommen“, berichtet Johnny. Im März erlebte die lose Stehtisch-Community diesen Schockmoment. Nur wenige Wochen später haben der ebenfalls anwesende Stammgast Felix und er aus einem Stück Europalette und einer runden Holzscheibe kurzerhand einen neuen Stehtisch gebaut.

Noch heute hängt eine Vermisstenanzeige zum verschollenen alten Stehtisch am Treffpunkt in der Sanderau. Dessen Verschwinden ist weiterhin ungeklärt. Foto: Philipp Heilgenthal

Mysteriöse Entstehungsgeschichte – Der Stehtisch lebt vom Zufall

Ebenso mysteriös und ungeklärt wie das Verschwinden des roten Tisches von damals ist dessen Entstehungsgeschichte. „Etwa seit der Jahreswende stand er auf der kleinen Wiese am Kreisverkehr und seitdem sieht man hier immer mal wieder Leute stehen“, weiß Felix. Johnny hat die Theorie, da an diesem Platz bei einem Umzug gerne Gegenstände abgestellt werden, sei der Tisch dabei einfach mal stehengelassen und nicht mehr abgeholt worden. Dann hätten schnell die ersten Leute das Plätzchen als idealen Standort für einen spontanen Treffpunkt bei einem Bierchen mit Freunden und auch Unbekannten für sich entdeckt.

Und genau dieses Unbekannte, Ungewisse und Spontane scheint den großen Reiz dieses einzigartigen Ortes auszumachen. Nur sehr selten verabredet sich eine größere Gruppe hier zu einer festen Uhrzeit. Denn der Stehtisch lebt vom Zufall. Neulinge werden mit großer Neugier fröhlich in die Runde miteingebunden – der perfekte Ort für neu Zugezogene in Würzburg.

Die unterschätzte soziale Komponente des Stehtischs

Auch wenn das unscheinbare Möbelstück von manch einem belächelt wird, erfüllt er dadurch eine wichtige soziale Komponente. Schließlich gibt es im Viertel um den Südbahnhof keine Kneipe und keinen öffentlichen Platz. Auch an diesem Abend kommen zwei Jungs aus der Nachbarschaft und knüpfen direkt Kontakte mit den anderen Leuten aus dem Viertel. „Deshalb hat mich mal eine ältere Frau darauf angesprochen, wie toll sie das findet, weil es sie an ihre Heimatstadt Istanbul erinnert, wo es ganz normal sei, sich am Abend auf die Straße zu setzen und mit den Nachbarn auszutauschen.“ Schließlich belebe der Ort das etwas verschlafene Viertel auf eine angenehme Art und Weise, weshalb ihn gerade auch Anwohnerinnen und Anwohner, die ihn selbst nicht nutzen, so gut finden. „Die meisten Leute schauen uns hier an, aber ich kriege jedes Mal ein Lächeln zurück“, freut sich Felix.

Schließlich erdet der minimalistische Aspekt eines einfachen Tisches und selbst mitgebrachten Getränken die Anwesenden. Das plump erscheinende Motto „Am Stehtisch sind wir alle gleich“ ist viel mehr als eine bloße Phrase, wie man nach wenigen Minuten an dem Ort schnell merkt. Außerdem schätzen die Stammgäste das Ungezwungene, Niederschwellige an dem Stehtisch: Einfach mit einem Getränk um die Ecke laufen und schauen, was los ist, fertig.

Rückenwind seitens der Stadt und Martin Heilig

Bei einem Treffpunkt mitten im Wohnviertel, bei dem in den Abendstunden Bier getrunken wird, sollte man meinen, dass es schon öfter Beschwerden gab und er der Stadt ein Dorn im Auge sei. Doch das Gegenteil ist der Fall. „Wir sind immer wieder mit dem Hausmeister des Nachbarhauses in Kontakt. Solange alles sauber bleibt und er keinen Mehraufwand hat, hat er überhaupt nichts dagegen“, bekräftigt Johnny. Musikboxen werden am Stehtisch nicht aufgedreht und gegen 22 Uhr ist in der Regel Schluss. Folglich liefert der Stehtisch erst gar keinen Grund für eine ernstzunehmende Beschwerde.

Martin Heilig äußert sich auf reddit aufgeschlossen gegenüber einer Aufwertung des Stehtischs seitens der Stadt. Screenshot: Philipp Heilgenthal

Schließlich steht der Stehtisch nicht auf privatem, sondern auf städtischem Grund. „Da hatte ich mal die wohl überraschendste Reaktion auf den Stehtisch erlebt: Ein Mitarbeiter von der Stadtplanung war hier und meinte, er findet diesen Treffpunkt richtig super, da er die Möglichkeit bietet, verschiedene Menschen zusammenzuführen“, erzählt Johnny. Auch der OB-Kandidat Martin Heilig hat sich schon positiv zum Stehtisch geäußert und mit einem Schmunzeln angekündigt, er werde daran arbeiten, den Stehtisch als offizielles Wahrzeichen Würzburgs anzuerkennen. Auch in anderen Situationen hätten die Stammtischfans seitens der Stadt und der Polizei bereits signalisiert bekommen, dass sie den Treffpunkt nicht nur dulden, sondern sogar begrüßen.

„Ein Stehtisch in jedem Viertel wäre schön“

Angesichts der positiven Reaktionen seitens der Stadt sprudeln während des Interviews nur so die Ideen aus den Anwesenden, wie sie diesen Platz aufwerten und dabei die Stadt ins Boot holen könnten. Ein fester Abfalleimer sei hier sinnvoll, eine Fahrradreparaturstation wäre ein schönes Zeichen. Ebenso ein offener Bücherschrank, den man wohl selbst organisieren und aufstellen könnte. „Und der Stehtisch benötigt mal Kunst: Ein paar Graffiti und schöne Sticker würden sich hier gut machen, um den Kiez-Charakter hervorzuheben“, meint Johnny. Und schon wird philosophiert, was am Stehtisch denn alles in naher Zukunft denkbar wäre – von akustischen Standkonzerten bis Poetry-Slams.

Keinem der Anwesenden sei bisher ein vergleichbarer Treffpunkt bekannt gewesen, weder in Würzburg noch in anderen Städten. Wenn es nach ihnen geht, muss das keinesfalls dabei bleiben. „Es soll ja ein Kontaktraum für alle sein und da wäre es doch schön, wenn jeder Stadtteil so einen Kieztreff hätte“, betont Felix. Die Idee und Philosophie des Stehtischs dürfe also gerne expandieren.

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